Der Ökonom Victor Álvarez über die wirtschaftliche Lage in Venezuela und notwendige Maßnahmen zur Überwindung der Krise
Welches sind die dringlichsten Maßnahmen, um aus der Krise herauszukommen?
Die Regierung hat immer noch einen Handlungsspielraum für die Einführung eines Programms zur ökonomischen Stabilisierung mit sozialem Wohlstand, mit Maßnahmen, die positive Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft hätten. Sie kann den Benzinpreis an einen realistischen Wert anpassen1, das Wechselkurssystem vereinheitlichen und staatliche Importe zugunsten der nationalen Produktion ausrichten. Sie kann Verteidigungsausgaben reduzieren, um prioritär in Gesundheit und Sicherheit zu investieren; sie kann Devisenzahlungen an Brasilien, China, den Iran etc. für erbrachte Infrastrukturleistungen neu regeln; mit über 50 Prozent Erlass externe Schulden zurückkaufen, externe Schulden neu verhandeln und somit die Zahlungen in den Jahren 2016 und 2017 entlasten. Und sie kann die ineffizienten direkten Subventionen durch direkte Subventionen für arme Haushalte ersetzen.
„Die Saat des Erdöls“. Mit den Einnahmen von PDVSA werden die staatlichen ozialprogramme finanziert – QUELLE: PDVSA.COM |
Einige Ökonomen haben kritisiert, dass sich die Regierung beim Ergreifen von Gegenmaßnahmen zu viel Zeit gelassen hat und dass, selbst wenn sie heute sofort angewendet werden, eine Überwindung der Krise nicht einfach sein wird. Sieht es für Venezuela wirklich so düster aus?
Ökonomische Maßnahmen, die nicht rechtzeitig ergriffen werden, haben, auch wenn sie richtig sein mögen, nicht mehr dieselbe Wirkung. Die Verzögerung schränkt sie ein und kann den gewünschten Effekt aufheben. Es ist wie beim Krebs, der zwar diagnostiziert, aber nicht zeitnah und nicht auf die richtige Art und Weise behandelt wurde, und dessen Schäden dann irreparabel sein können. Das entstehende wirtschaftliche und soziale Chaos kann dann eine Krise der Regierbarkeit auslösen, die zu politischen Veränderungen führt.
Glauben Sie angesichts der Inaktivität der Verantwortlichen gegenüber der aktuellen tiefgreifenden Krise, dass die Regierung auf das Chaos setzt? Nutzt jemandem eine soziale Explosion?
Die Regierung versteht das Wesen dieser Krise nicht. Sie verwechselt sogar Inflation mit Spekulation und reagiert auf Preissteigerungen mit Einsatzkommandos, Geldstrafen und Gefängnis, als ob es sich hierbei um eine Straftat handeln würde. Sie schafft es nicht, den Zusammenhang anzuerkennen zwischen makroökonomischen Verwerfungen, Rechtsunsicherheit, Arbeitskonflikten und dem Rückgang der Produktionsinvestition und der schwerwiegenden Knappheit, von der die Bevölkerung betroffen ist. Sie versteht nicht, dass die Finanzierung des Haushaltsdefizits mittels der ungedeckten Emission von Banknoten die Inflation begünstigt.
Die Opposition setzt auf diese Inaktivität, damit sich die Situation weiter verschlechtert und sie in Wahlen Kapital aus der sozialen Unzufriedenheit schlagen kann. Sie hat daraus bereits bei den Wahlen am 6. Dezember saftige Dividenden erzielt und hofft jetzt auf weitere Zugewinne bei den Gouverneurswahlen. Auf eine finale Schlacht zu setzen bedeutet aber, einen sozialen Konflikt zu provozieren, der in einer tiefgreifenden Krise der Regierbarkeit enden kann. Was auf dem Spiel steht ist nicht die Kontinuität der Regierung, sondern die Lebensfähigkeit der Nation.
Warum hat man Ihrer Meinung nach die ökonomischen Maßnahmen nicht rechtzeitig ergriffen? Welche Konsequenzen hat die Verzögerung?
Die Regierung ist in einschränkenden Überzeugungen gefangen. Sie schreibt den nötigen ökonomischen Maßnahmen volksfeindliche Auswirkungen mit den daraus resultierenden politischen Kosten zu. Sie gelangt nicht zu der Erkenntnis, dass das eigentlich Volksfeindliche die Beibehaltung einer Reihe rigoroser Kontrollen und ineffizienter Subventionen ist, die dem Volk, das sie zu verteidigen vorgibt, überhaupt nicht zugutekommen. Im Gegenteil werden diese von den Mafias der Spekulanten und Korrupten ausgenutzt, die skandalöse Vermögen angehäuft haben, indem sie sich die perversen Anreize zunutze machen, die diese Verirrungen und Fehler der Wirtschaftspolitik bieten.
Halten Sie die Vereinheitlichung der Wechselkurse für notwendig?
Die Vereinheitlichung der Wechselkurse ist das einzige, was die Regierung vor ihrem fiskalischen Schiffbruch retten kann. Machen wir uns nichts vor, die Angaben bezüglich der Erfüllung der Zielvorgaben bei den Steuereinnahmen sind durch die Inflation verzerrt. Im Jahr 2015 wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um über acht Prozent gesunken sein und viele Firmen schlossen mit Verlusten und werden somit keine Steuern bezahlen. Die alles verzehrende Inflation hat auch dazu geführt, dass eine wachsende Zahl an Kauf- und Verkaufgeschäften ohne Rechnung getätigt wird, um der Abgabe einer Mehrwertsteuer zu entgehen. Die einzige Option der Regierung, um dieses Steuerloch zu stopfen, ist es, die Dollars teurer zu verkaufen.
Wie hoch müsste der Wechselkurs sein und warum?
Der Wechselkurs stellt ein Verhältnis zwischen zwei Währungen dar, in diesem Fall zwischen dem Bolívar und dem US-Dollar. Die Regierung wird nach Augenmaß abwerten, aber als technisches Kriterium für die Annäherung an eine neue Währungsparität könnte der implizite Wechselkurs dienen, bei dem die Geldmenge ins Verhältnis zu den Devisenreserven gesetzt wird. Bei einer Differenz mehr als des 150-fachen zwischen dem offiziellen und dem Schwarzmarktdollar wird ein niedriger Wechselkurs weiterhin eine Versuchung für Renditejäger darstellen, die immer einen Weg finden, an billige Dollars zu kommen um sie dann teuer weiterzuverkaufen. Eine Vereinheitlichung nahe am Wechselkurs des Simadi2 würde, obwohl dieser immer noch nur 20 Prozent des Schwarzmarktkurses betrüge, bereits ausreichend Bolívares in die Kassen spülen, damit PDVSA3 Gehälter und Schulden bezahlen kann.
Was kostet PDVSA die Produktion eines Barrels Öl?
Dazu gibt es keine aktuellen Daten, aber laut dem letzten Jahresbericht von 2014 belaufen sich die durchschnittlichen Extraktionskosten auf 18 US-Dollar pro Barrel. Preise von 25 US-Dollar pro Barrel und eine PDVSA, die gezwungen ist, zu Wechselkursen von 6,30 bzw. 13,50 zu verkaufen, bringen die Gold-Eier legende Henne um. Bei einem Wechselkurs von 6,30 bekommt das Unternehmen für ein 159-Liter-Fass à 25 US-Dollar umgerechnet 157,5 Bolívares und somit weniger als einen Bolívar pro Liter. Wenn es die Petro-Dollars zu 13,50 wieder verkauft, bekommt es 337,5 Bolívares und somit 2,12 Bolívares pro Liter. Zu den vom Außenhandelszentrum Cencoex oder von Sicad4 angewandten Wechselkursen reichen die Einnahmen der PDVSA nicht aus, um gleichzeitig die Gehälter der über 140.000 Mitarbeiter, ausstehende Zahlungen an Lieferanten und weitere Geschäftspartner, Unterstützungen sozialer Programme und Abgaben an den Fiskus zu leisten. Daher muss sich das Unternehmen bei der Zentralbank verschulden, die zum Ausgleich des staatlichen Haushaltsdefizits wiederum dazu gezwungen ist, ungedeckt Unmengen an Geld zu drucken, was zum Hauptfaktor der Inflation geworden ist.
Eine nächste Tilgungsrate wird fällig und manche sprechen sich für die Refinanzierung der Schulden aus. Andere sagen, man solle nicht zahlen. Was ist Ihre Meinung dazu?
Venezuela muss zahlen. Aber vorher muss man einen Kassensturz vornehmen und schauen, ob das Land überhaupt zahlen kann, ohne auf das hauptsächliche Ziel zu verzichten, nämlich die Reaktivierung der Produktion zur Überwindung der Versorgungsmängel, die so viel Unbehagen in der Bevölkerung hervorrufen. Gemäß Daten der Organisation Erdölexportierdender Staaten (Opec) förderte PDVSA im Jahr 2015 2,9 Millionen Barrel pro Tag (bpd). Um die Nettoeinnahmen in Devisen errechnen zu können, muss zunächst der nationale Konsum in Höhe von 750.000 bpd abgezogen werden. Wenn man die Lieferungen an Kuba, Alba und Petrocaribe einstellen und die Lieferungen an China auf 300.000 bpd beschränken würde, blieben somit 1.850.000 bpd für den Export. Wenn man nun mindestens den im Haushalt 2016 veranschlagten Preis von 40 Dollar pro Barrel erzielen würde, betrügen die Einnahmen 27,01 Milliarden Dollar.
Um jedoch einen größeren Rückgang des BIP zu verhindern, belaufen sich die wesentlichen Importe weiterhin auf 25 Milliarden Dollar, während im Jahr 2016 die fälligen Kapital- und Zinsbeträge von externen Schulden bei über zehn Milliarden Dollar liegen. Die Regierung muss sich mit ihren Kreditgebern zusammensetzen und ihren Willen zusichern, die Schulden mittels neu festgelegter Rückzahlungsmodalitäten, die sich an den Ölpreisentwicklungen ausrichten würden, zu begleichen.
Von Victor Álvarez (Interview: Andreina García Reina)
Übersetzung: Marc-André Ludwig, Eva Haule
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