Es kommt nicht alle Tage vor, dass Regisseure von den zukünftigen Protagonisten ihres Films aufgefordert werden, doch bei ihnen vorbeizukommen, um dann dort zu drehen. Und es kommt wohl noch seltener vor, dass dieses Angebot dann auch noch wirklich von Regisseursseite wahrgenommen wird. So geschehen jedoch bei Heidi Specogna und ihrem Dokumentarfilm Pepe Mujica – Der Präsident. Eines Tages bekam die Schweizer Regisseurin einen Brief aus Uruguay: „Queridos Cineastas – Liebe Filmemacher. […] Heute sind es fast 17 Tage, dass Pepe unser Land regiert. […] Habt ihr nicht Lust und Zeit vorbeizukommen, um die Fortsetzung unserer Geschichte zu erzählen?“ Specogna ging bereits 1996 in Tupamaros mit Pepe Mujica als zentraler Figur und Ex-Guerillero der Frage nach, wie nach dem Ende der Diktatur und der Freilassung der politischen Gefangenen sich aus der Stadtguerilla MLN – Tupamaros (Movimiento de Liberación Nacional – Tupamaros) ein politisches Parteienbündnis formiert.
Pepe Mujica – Der Präsident stellt in der ersten Hälfte unkommentiert mehrere Zeitebenen nebeneinander: Archivaufnahmen aus der Zeit der Diktatur stehen als historischer Rahmen neben Szenen aus Specognas erstem Film, die wiederum von den aktuellen Aufnahmen und Interviews ergänzt werden. Im Mittelpunkt steht dabei der politische Mensch Pepe Mujica, seine gesellschaftlichen Ansichten und militante Vergangenheit. Zu Beginn des Films lassen einen das (durch den zeitlichen Abstand der Aufnahmen von 18 Jahren) direkt aufeinander folgende unterschiedliche Aussehen Mujicas und seiner Frau Lucía Topolansky immer wieder kurz ins Stocken geraten. Dieses Moment des Innehaltens und der Fakt, dass die Bilder zeitlich vor- und zurückspringen, verdeutlichen ohne viel Kommentar eine Wechselwirkung von Gegenwart und Vergangenheit. Das Heutige lässt einen immer wieder anders auf das Gestrige schauen, während das Gestrige im Heutigen oft wieder auftaucht und damit seinen Status des Gestrigen verliert. Als Resultat hält einen dieses dokumentarische Kaleidoskop verschiedener Zeitebenen in einem simultanen Zustand von leicht verwirrt und wach zugleich.
Leider verliert Pepe Mujica – Der Präsident in der zweiten Hälfte diese anregende, zeitliche Vermischung. Von da an wird chronologisch und konventionell vom Leben und politischen Alltag des Präsidenten erzählt. Als roter Faden dient der Prozess der Regulierung des Marihuanamarktes im Kampf gegen die Drogenkriminalität in Uruguay, der immer wieder aufgegriffen wird: Wir bekommen Anhörungen im Parlament zu sehen, verfolgen Diskussionen und Interviews in den Gängen des Parlamentsgebäudes, und schließlich sind wir auch bei der entscheidenden Abstimmung im Parlament zugegen (wie so viele andere: die Ränge für die interessierte Öffentlichkeit unter dem Dach des Sitzungssaals sind voll besetzt), in der Jubel aufbrandet, als die Abstimmung zugunsten des Gesetzesantrags ausfällt. Analog zu diesem Prozess erzählt Mujica von seinem Verhältnis zu der gegenwärtigen Jugend von Uruguay und seine Liebe für sie, die er selbstreflexiv jedoch als eine oberflächliche betrachtet. Er selbst komme aus Zeiten, in denen die Jugend ihrer politischen Unzufriedenheit mit den faschistoiden Verhältnissen des Landes mit Hilfe von Protesten auf der Straße Ausdruck verliehen hat, während die Jugendlichen heute lediglich auf unbestimmte Weise unzufrieden scheinen. Dabei gleitet Mujica nie in ein konservatives Schönfärben der Vergangenheit oder gar in Kulturpessimismus ab, sondern zeigt stets ein sensibles Gespür für die Gegenwart und ihre strukturellen Zwänge.
Mujica gibt sich nicht nur, sondern ist sehr volksnah und von charmanter Spitzbübigkeit. Dazu ist er ein außerordentlich guter Redner, der mit seiner Ruhe und seinen direkten, klaren Sätzen besticht. Durch den glaubwürdigen Gebrauch des Wortes „wir“ stellt er sich auf dieselbe Seite wie die Bevölkerung von Uruguay. Nicht nur das: er lässt seinen Worten auch Taten folgen, spendet er fast 90% seines Präsidentengehalts an soziale Projekte und NGOs – ein in der europäischen oder deutschen Politik schwer vorstellbares, authentisches Verhalten. Gegen Ende des Films erleben wir den Präsidenten als politischen Reisenden, unter anderem beim Staatsbesuch in Deutschland. Seltsam deplatziert wirken seine direkten und ehrlichen Ansprachen, die wirtschaftskritisch an ein soziales Gewissen jeglicher Politik appellieren. Vor dem Hintergrund der politischen Scheuklappen einer durchkapitalisierten Nation wie Deutschland wirken seine in der ersten Hälfte des Filmes noch kräftigen Worte nun stellenweise schwach und hölzern, vor allem angesichts einer übermächtigen Industrielobby.
Pepe Mujica – Der Präsident ist ein Nachruf auf einen sympathischen Menschen, einen bodenständigen und bescheidenen Präsidenten: Inzwischen ist seine Amtszeit abgelaufen und er in seinem Amt abgelöst. Es ist ein Nachruf, wie ihn sich jeder wünscht. Einer, der keine kritischen Töne anschlägt. Specogna lässt Mujica vielmehr als Projektionsfläche bestehen (obwohl ihm auch während seiner Amtszeit natürlich viele Vorhaben nicht gelungen sind und ihm auch kritische Stimmen aus armen Bevölkerungsteilen entgegen schlugen, die ihn und seine bescheidene Lebensweise nicht als Vorbild betrachten, ja ihn sogar als seltsam bis verrückt bezeichnen), an der sich die Menschen orientieren können. Mit Hilfe einer solchen Figur rutschen sie vielleicht nicht vollends und großflächig in einen stellenweise schon präsenten, entpolitisierten Frust ab. Das Interesse am Stoff von Mujicas Leben scheint jedenfalls über den Film hinaus vorhanden – auch Emir Kusturica dreht gerade über Mujica. Vielleicht mit gutem Grund, auch aus hiesiger Perspektive: eine soziale oder gar sozialistische Politik wird hierzulande nicht mehr ernsthaft diskutiert. Pepe Mujicas Haltung allerdings, sein charismatischer Pragmatismus ohne den Verzicht auf eine Utopie und sein Beharren auf sozialer Gerechtigkeit, wird hoffentlich nie aus der Mode kommen.
(Stephan Langer)
Start soll am 05.03.2015 sein.